Risikobewertung, welche Vorschriften/Normen kommen zur Anwendung

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Hallo,
für den weiter unten geschilderten Fall suche ich die entsprechenden DIN-Normen oder die Bezeichnungen von Vorschriften die hätten beachtet werden müssen es aber, meiner Meinung nach, nicht wurden.
Von Ende 2015 bis Anfang 2016 war ich als Freiberufler für eine Firma tätig, die große Bohranlagen für die Möbelindustrie herstellt. Bei diesen wird ein Brett automatisiert zugeführt, über pneumatisch ausfahrende Anschlaglineale ausgerichtet und zusätzlich noch von oben und unten geklemmt, dann gebohrt, wieder freigegeben und ausgefahren. An so einer Anlage sollte ich während andere Kollegen auch am Arbeiten waren unter TwinCAT 2 eine neue Konfiguration einspielen. Dies macht es erforderlich, dass die Steuerung neu gestartet werden muss, dabei werden alle Ausgänge ausgeschaltet und "einfache" Ventile (Sorry, kenne die richtige Bezeichnung nicht) gehen in Ruhestellung. An einem solchen Ventil war auch ein Anschlaglineal angeschlossen, dass nun plötzlich aus fuhr und einem Kollegen ziemlich doll die Hand geklemmt hat. Ich habe nach diesem Vorfall zunächst nichts weiter davon gehört, bis sich vor ein paar Wochen Hays bei mir gemeldet hatte durch deren Vermittlung der Auftrag zustande kam. Nach so einer relativ langen Zeit kann ich mich natürlich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, so kann ich auch nicht mit Gewissheit sagen, ob ich vor dem Neustart laut eine Warnung (Was ich eigentlich immer mache wenn jemand an einer Maschine arbeitet) ausgesprochen habe, oder ob ich diese zu leise oder gar nicht ausgesprochen habe.
Damit das Folgende nicht im falschen Licht erscheint sei hier erwähnt, dass mir das Ganze natürlich leid tut und ich auch nicht leugnen möchte, dass ich der Verursacher bin. Jedoch bin ich der Meinung, dass mich nicht die Hauptschuld an dem Vorfall trifft. Eine gewisse Mitschuld sehe ich (leider) bei dem verletzten Kollegen. Dieser kennt die Maschine und ihre potentiellen Gefahren schon seit vielen Jahren, während ich nur eine kurze Einführung in die Anlage erhalten hatte und ich mir heute, aus bereits erwähntem Grund, auch nicht sicher bin, ob ich auf die große Klemm-/Quetschgefahr ordentlich hingewiesen wurde. Dieser Kollege hätte durch Einbringung eines Hindernisses vermutlich verhindern können, dass sich das Lineal soweit bewegt, dass es zu einer Quetschung kommt. Die Hauptschuld sehe ich jedoch bei dem Hersteller selber, der in meinen Augen eine völlig unzureichende Risikobewertung (oder wie das genau heißt) durchgeführt hat. Meiner Meinung nach hätte an dieser Stelle ein 5/2-Wege Ventil (Meine dies heißt so) eingesetzt werden müssen, das zwei Spulen besitzt und jeweils nur schaltet, wenn eine der Spulen einen Impuls erhält und ansonsten sich nicht bewegt. Wäre ein solches Ventil eingesetzt worden wäre es nicht zu der Bewegung des Lineals gekommen und alles wäre gut.
Ich hätte nun gerne gewusst, ob ich mit meiner Einschätzung richtig liege und welche Vorschriften und/oder Normen hier zur Anwendung hätten kommen müssen. Wie gesagt ist es nicht mein Ziel mich vor der Verantwortung zu drücken, aber ich weigere mich zu akzeptieren, dass ich der alleinige Sündenbock sein soll.
 
Hallo,

mir scheint, bei diesem Unfall ist alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen kann.

1. Fehlerhafte Pneumatikkonstruktion
2. keine Absprache bzgl. Verhalten während des Programmuploads
3. Programmupload, während sich Personal in der Anlage aufhält
4. keine Bestellung eines Verantwortlichen für den "Programmierbetrieb"
5. keine Unterweisung des Mitarbeiters (wahrscheinlich)
6. keine Einweisung für Dich als externer Dienstleister (wahrscheinlich)
7. kein Schutzgitter/Lichtgitter vorhanden oder manipuliert (wahrscheinlich)

Das ist jetzt teilweise gemutmaßt.
Für Punkt 3. bist Du verantwortlich, die anderen Punkte haben aber
auch zum Unfall beigetragen.
Was wirft man Dir denn vor? Wer will was von Dir? Die Firma oder
die Behörde?
 
Servus,

als Argumentation könnte man das Neustarten der CPU auch als Ausfall der Energieversorgung (für die Ausgänge) interpretieren und nach Maschinenrichtlinie Punkt
1.2.6. Störung der Energieversorgung
Ein Ausfall der Energieversorgung der Maschine, eine Wiederherstellung der Energieversorgung nach einem
Ausfall oder eine Änderung der Energieversorgung darf nicht zu gefährlichen Situationen führen.
bewerten.
...
Des Weiteren hätte dieser Fall in der Risikoanalyse nach 12100-1 Punkt
3.29 unerwarteter Anlauf unbeabsichtigter Anlauf
jeder unvorhergesehene Anlauf, der zu einer Gefährdung führt. Dies kann z. B. verursacht werden durch:
- einen Befehl zum Ingangsetzen, der durch einen Ausfall in der Steuerung oder einen äußeren Einfluss auf die Steuerung bewirkt wird;
...
betrachtet und entsprechend abgesichert werden müssen

Problematisch wird für Dich das Thema wenn die Steuerung auch sicherheitsgerichtete Aufgaben übernimmt (ich kenn Beckhoff - Steuerung zu wenig um zu sagen ob die das können) und Du damit auch für die Maschinensicherheit mitverantwortlich bist.

In jedem Fall musst Du Dir meiner Meinung nach den Vorwurf fahrlässig mangelnder Abstimmung mit den Kollegen gefallen lassen.

Lieb Grüßt
Helmut
 
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Hallo Tommi,
auch Dir vielen Dank für Deine Antwort.
...mir scheint, bei diesem Unfall ist alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen kann.
Das ist leider wohl wahr.
1. Fehlerhafte Pneumatikkonstruktion
2. keine Absprache bzgl. Verhalten während des Programmuploads
3. Programmupload, während sich Personal in der Anlage aufhält
4. keine Bestellung eines Verantwortlichen für den "Programmierbetrieb"
5. keine Unterweisung des Mitarbeiters (wahrscheinlich)
6. keine Einweisung für Dich als externer Dienstleister (wahrscheinlich)
7. kein Schutzgitter/Lichtgitter vorhanden oder manipuliert (wahrscheinlich)
Zu 1)
Der Meinung bin ich auch, hier hätte eigentlich ein Ventil mit zwei Spulen eingebaut werden müssen, dass nur schaltet, wenn an einer von beiden ein Signal anliegt. Bei dem Neustart hätte sich dann nämlich nichts gerührt.
zu 2+3)
Den Schuh muss ich mir anziehen, wobei ich, wie erwähnt, nach so langer Zeit nicht sagen kann, ob ich vor dem Neustart eine Warnung ausgesprochen habe. Eigentlich rufe ich immer wenn Kollegen am arbeiten sind und schaue, ob einer noch die Hände in der Anlage hat, aber auch bin nicht fehlerfrei.
zu 4)
Kann ich nichts zu sagen
zu 5)
Der Mitarbeiter baut schon schon seit vielen Jahren diesen Maschinentyp und sollte die Gefahren kennen.
zu 6)
Ich habe mal 2-3 Tage bei der Montage einer solchen Anlage zugesehen und Fragen gestellt, kann aber aus bekannten Gründen nicht sagen, ob mir tatsächlich mitgeteilt wurde wie schwerwiegend die Quetschgefahr ist.
zu 7)
Die Anlage befand sich ja noch im Aufbau, bzw. Einrichtung beim Hersteller und da ist sowas durchaus mal deaktiviert, was ja auch zulässig ist. Allerdings bin ich, wie ich zu 1 schon schrieb, der Meinung, dass ein anderes Ventil hätte verwendet werden müssen.
Was wirft man Dir denn vor? Wer will was von Dir? Die Firma oder die Behörde?
Wie gesagt habe ich fast zwei Jahre zu dem Vorfall nichts gehört, dann hat sich auf einmal der Anwalt des Kollegen gemeldet und mir quasi die alleinige Schuld zugewiesen. Ich leugne ja nicht, dass ich Schuld habe und werde dies auch nicht versuchen, aber ich sehe nicht ein, dass ich der Hauptschuldige bin.
 
Hallo Oliver,

qui hat nicht ganz die richtige Norm zitiert.
Die EN 12100 1+2 gibt es nicht mehr nur noch eine zusammengefasste EN12100.
Dort steht unter Punkt 6.2.11.1, daß Maschinensteuerungen so konzipiert sein
müssen, daß unerwarteter Anlauf nicht passiert, z.B. durch geeignete Auswahl
von Steuerungseinrichtungen (das Pneumatikventil).
Vielleicht kannst Du das zu Deiner Entlastung vorbringen.

Du solltest Dich mal juristisch beraten lassen ob das Opfer den Verursacher
überhaupt belasten darf, wenn der Unfall über die Berufsgenossenschaft
reguliert wurde, was ja eigentlich der Fall sein müsste.
 
Hallo Helmut,
vielen Dank, dass sind die Infos nach denen ich gesucht habe, hoffentlich kommen noch mehr davon.
als Argumentation könnte man das Neustarten der CPU auch als Ausfall der Energieversorgung (für die Ausgänge) interpretieren und nach Maschinenrichtlinie Punkt
1.2.6. Störung der Energieversorgung
Ein Ausfall der Energieversorgung der Maschine, eine Wiederherstellung der Energieversorgung nach einem
Ausfall oder eine Änderung der Energieversorgung darf nicht zu gefährlichen Situationen führen.
bewerten.
...
Aus diesem Grund bin ich auch der Meinung es hätte ein anderes Ventil verwendet werden müssen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich meine, dass das Anschlagslineal nicht in Ruhestellung fährt, also ausfährt, wenn die Lichtgitter auslösten. Das bedeutet, dass es auch beim Kunden im Falle eines Stromausfalls zu einer ungeplanten Bewegung und einer Verletzung der Mitarbeiter hätte kommen können.
Des Weiteren hätte dieser Fall in der Risikoanalyse nach 12100-1 Punkt
3.29 unerwarteter Anlauf unbeabsichtigter Anlauf
jeder unvorhergesehene Anlauf, der zu einer Gefährdung führt. Dies kann z. B. verursacht werden durch:
- einen Befehl zum Ingangsetzen, der durch einen Ausfall in der Steuerung oder einen äußeren Einfluss auf die Steuerung bewirkt wird;
...
betrachtet und entsprechend abgesichert werden müssen
Dürfte das Selbe wie oben sein.
Problematisch wird für Dich das Thema wenn die Steuerung auch sicherheitsgerichtete Aufgaben übernimmt (ich kenn Beckhoff - Steuerung zu wenig um zu sagen ob die das können) und Du damit auch für die Maschinensicherheit mitverantwortlich bist.
Beckhoff kann Safety-Funktionen und I/Os bereitstellen, allerdings muss dafür eine zusätzliche CPU in Form einer Busklemme und spezielle Busklemmen für die I/Os verwendet werden. Das Programm wird in einem getrennten Bereich vom Visual Studio erstellt und ist getrennt vom "normalem" Programm. Da ich von der Erstellung eines Safety-Programms allerdings praktisch keine Ahnung habe lasse ich die Finger davon und würde mich auch weigern ein solches Programm zu erstellen.
In jedem Fall musst Du Dir meiner Meinung nach den Vorwurf fahrlässig mangelnder Abstimmung mit den Kollegen gefallen lassen.
Das stimmt und da will ich mich auch nicht von freisprechen.
 
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Du solltest Dich mal juristisch beraten lassen ob das Opfer den Verursacher
überhaupt belasten darf, wenn der Unfall über die Berufsgenossenschaft
reguliert wurde, was ja eigentlich der Fall sein müsste.
Ob und wenn ja was da schon reguliert wurde kann ich nicht sagen. Der Brief vom Anwalt war relativ nichtssagend. Ich hatte den Vorfall gleich an meine Haftpflicht weitergegeben. Ich hatte mir zum Abschluss der Haftpflicht extra einen Vertreter ins Haus geholt weil ich von der Thematik keine Ahnung habe und habe diesen meine Gewerbeanmeldung vorgelegt und geschildert was ich mache. Die Schadensabteilung meinte nun jedoch, dass dieses Risiko angeblich nicht bei meinem Vertrag abgesichert sei (Ich liebe Versicherungen, Banken übrigens genauso, wobei letzteres sich seit einem kürzlichen Wechsel langsam ändert). Bei uns in der Gegend ist jetzt ein neuer Vertreter zuständig für mich, der das glücklicherweise etwas anders sieht und sich für mich einsetzt. Einen Anwalt werde ich bei Bedarf noch einschalten, ich hoffe, dass dieser nicht noch an zwei Fronten kämpfen muss. Bisher hatte ich keinen Firmenrechtschutz, werde diesen aber jetzt wohl doch besser mal abschließen. Mist, da hat man endlich Kredite abgezahlt und dann muss man sich neue Belastungen ins Haus holen.
 
Bisher hatte ich keinen Firmenrechtschutz, werde diesen aber jetzt wohl doch besser mal abschließen.
Ich fürchte die Versicherung wird keine rückwirkenden Fälle übernehmen. Ich kenn die Situation in DE nicht aber in AT übernimmt die Haftpflicht auch die Kosten für die Schadensabwehr also den Rechtsanwalt (kann jedoch sein, dass Du dir danach eine neue Versicherung suchen musst...)

qui hat nicht ganz die richtige Norm zitiert.
Danke Tommi, muss meine Linksammlung endlich wieder warten ...

liebe Grüße
Helmut
 
Wenn ich es richtig verstanden habe, dann könnte der selbe Fehler auch während des Normalbetriebs bei einem SPS-Stopp passieren?
Es wurden keine Schutzeinrichtungen entfernt oder überbrückt?
Wenn dies der Fall ist, wurde der Steuerungsausfall schlichtweg in der Risikobeurteilung vergessen.
Aber auch simples Ventil mit 2 Spulen hätte da aus Sicherheitssicht sehr wahrscheinlich nicht für den notwendigen PL gereicht.
Der Unfall liefert ein schönes Fallbeispiel für jeden Hersteller von Sicherheits-SPSen.
Für dich wichtig sind alle Unterweisungsunterlagen und -protokolle sowie alle dir zur Verfügung gestellten Unterlagen.
Wenn dich niemand auf die mögliche Gefahr hingewiesen hat und du z.B. keinen Pneumatikplan hattest, dann war es für dich nicht möglich diese spezielle Gefahr zu erkennen.
Da die Anlage wohl bereits in Betrieb war, darfst su erstmal von einer sicheren Anlage ausgehen.
So wurde es zumindest uns erklärt. Sowohl Hersteller als auch Betreiber sind ja für Anlagensicherheit zuständig.
Ich würd mal sagen, dass da die Anwälte ihre Freude haben werden und die von Tommi genannten Normen zur Argumentation eigentlich reichen sollten.
 
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naja bei anschalten, während sich eine Person im Gefahrenbereich befindet, wird es mit "not guilty" schwierig, denke ich. Aber ich teile die Meinung, das du auf keinen Fall alleine Schuld bist. wer hat denn den Auftrag gegeben? gab es einen Schichtleiter oder ähnliches, der von der Arbeit gewusst hat? hätte dieser seine Mitarbeiter entfernen müssen? wie war generell die Verantwortung aufgeteilt? ich denke die Antworten auf diese Fragen, könnten dich entlasten.
 
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